Flip your classroom – Bringt das was? 1


Gastbeitrag aus der Lehrpraxis von Prof.  Dr. Joachim Enders aus dem Fachbereich Physik

Eine invertierte Vorlesung in der Service-Lehre Physik

Phasenvergleich zwischen „normaler“ Veranstaltung und Flipped Classroom (Oliver Tacke, flickr.com)

Phasenvergleich zwischen „normaler“ Veranstaltung und Flipped Classroom (Oliver Tacke, flickr.com)

Zu Jahresbeginn wurden hier im E-Learning Blog die Grundlagen des invertierten Vorlesungsformats (inverted lecture, flipped lecture, flipped classroom) vorgestellt und anhand eines Beispiels aus dem Stahlbau im Master-Studiengang Bauingenieurwesen veranschaulicht.  Die dort aufgeführten Argumente zur Motivation des Lehr-/Lernformats müssen hier nicht wiederholt werden und auch die Umsetzung sei nur kurz noch einmal dargestellt:

  • Die Studierenden bereiten sich auf die Vorlesung mit unterschiedlichen Materialien vor, so dass unterschiedliche Vorkenntnisse individuell ausgeglichen werden;
  • in der Vorlesungsstunde werden vor allem die Fragen und Schwierigkeiten der Studierenden thematisiert, um ein vertieftes Verständnis der Inhalte zu erreichen und nachhaltiger Kompetenzen aufzubauen.

Während in kleinen, fortgeschrittenen Gruppen (z.B. Masterstudierende) das Frage-Antwort-Format sehr gut geeignet ist, bieten sich für Teilnehmerzahlen über 50 und für jüngere Studierende andere aktivierende Lehr-/Lernformen an.  Beispiele hierfür sind peer instruction und just-in-time teachingPeer instruction kann z.B. durch multiple choice – Quizfragen realisiert werden, die versuchen, die Studierenden über konzeptuelle Aspekte des Fachs ins Gespräch zu bringen.  Geeignete Handreichungen für das Beispiel des Fachs Physik sind die Bücher von Eric Mazur und von Novak und anderen.

Bei einer Umsetzung einer invertierten Grundlagenvorlesung Physik für Studierende mit Nebenfach Physik müssen u.a. folgende Punkte adressiert werden:

  • Wird das inverted classroom model (ICM) unter den Randbedingungen eines deutschen Hochschulstudiums überhaupt angenommen – vor allem vor dem Hintergrund einer Grundlagenveranstaltung für Studierende mit Nebenfach Physik?
  • Kann ein gesteigerter Lernerfolg auch unter diesen Randbedingungen demonstriert werden?
  • Welche Zugangswege und Medien sind am besten geeignet, um Studierende im Selbststudium auf die Präsenzphase vorzubereiten?
  • Wie sollte die Präsenzphase bei Studierenden mit Nebenfach Physik und großen Hörerzahlen am besten gestaltet werden? Welche Elemente aktivieren die Studierenden nachhaltig?

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.  Da hier ein Austausch über E-Learning erfolgen soll, möchte ich mich im Folgenden auf die Frage der medialen Gestaltung der Vorbereitungsphase fokussieren und zur Wirksamkeit der Methode einige vorläufige empirische Daten nur kurz anreißen.

Umsetzung der invertierten Vorlesung am Beispiel Physik für Elektrotechnik I + II

Die Grundlagenbildung in Physik erfolgt in den Studiengängen Elektrotechnik und Informationstechnik sowie Angewandte Mechanik über eine zweisemestrige Vorlesung mit jeweils 3 Semesterwochenstunden (Vorlesung: 2 + Übung: 1).  Die Inhalte umfassen Themen der klassischen Mechanik (einschl. Schwingungen und Wellen) im ersten Semester und im zweiten Semester Auszüge aus Thermodynamik, Elektrodynamik, Optik und Quantenphysik.  Im Vorfeld der Neukonzeption wurden die Inhalte der Veranstaltungen im Gespräch mit Vertretern des servicenehmenden Fachbereichs entschlackt.  Für die Vorlesung („Präsenzveranstaltung“) stehen Demonstrationsexperimente zur Verfügung.  Übungen wurden in Gruppen bis zu 30 Studierenden mit Haus- und Präsenzübungsanteilen durchgeführt.  Die Umsetzung wurde in Konferenzbeiträgen auf den DPG-Frühjahrstagungen 2015 und 2016 vorgestellt und kann in diesen näher nachgelesen werden.

Vorbereitungsphase der Studierenden (online gestützt)

Die Studierenden erhalten eine Woche im Voraus die Unterlagen für die Präsenzveranstaltung zur Durchsicht.  Diese bestehen einerseits aus schriftlichen Arbeitsmaterialien, die zz. als PDF-Dokumente zur Verfügung gestellt werden.  Die schriftlichen Arbeitsmaterialien sind in 3-8 Abschnitte gegliedert, die jeweils immer identisch aufgebaut sind:

  • In einem ersten Abschnitt werden Literaturstellen zu einem bevorzugten sowie 4-5 weiteren etablierten Physik-Lehrbüchern angegeben, in denen die zu lernenden Inhalte behandelt werden.
  • Die inhaltliche Darstellung in Form eines Kurz-Skripts beginnt üblicherweise mit einem teaser, der die Thematik in einem kurzen Text, evtl. auch einem Bild oder durch einen Link motiviert. Anschließend werden einige Aspekte der Thematik dargestellt.
  • Es folgen für jeden Abschnitt 3-4 Verständnisfragen konzeptueller Natur sowie 2-3 Aufgaben zum Thema.  So können die Studierenden das Gelernte gleich erproben.

Alternativ zu den schriftlichen PDF-Dokumenten werden Lehrvideos angeboten.  Diese bestehen zum Teil noch aus Mitschnitten einer „konventionellen“ Vorlesung aus dem Sommersemester 2014, zum Teil wurden die Inhalte neu aufbereitet und aufgezeichnet.  Bei den neu aufgezeichneten Abschnitten (typ. 10-20 Minuten lang) wurde darauf geachtet,

  • das Interesse für die Thematik z.B. durch Anknüpfung an Alltagsaspekte zu wecken,
  • auf die relevanten Vorkenntnisse noch einmal gesondert hinzuweisen,
  • in einigen Fällen die Videos durch gezielte Arbeitsaufträge zum Mitdenken zu unterbrechen
  • und am Schluss auf einer Folie auf Verständnisfragen und Aufgaben (üblicherweise identisch mit denen aus den schriftlichen Materialien) hinzuweisen.

Die Studierenden haben die Gelegenheit, Fragen, Schwierigkeiten oder Hinweise zu Inhalten auf der Lehr-/Lernplattform Moodle einzureichen.  Wenn diese Fragen einen Tag vor der Präsenzveranstaltung eingereicht werden, können diese direkt im Vortrag der Präsenzveranstaltung aufgegriffen werden; zudem zählen so eingereichte Fragen zu einer Gesamtpunktzahl, die für einen Notenbonus bis zu einer Drittel Notenstufe bei der Modulabschlussprüfung qualifiziert.

Beispiele für die bereitgestellten Arbeitsmaterialien, Lehrvideos sowie die Möglichkeit zur Fragen-Einreichung auf Moodle:

Präsenzveranstaltung

Die Präsenzveranstaltung beginnt mit einem Arbeitsblatt, in dem die Studierenden eine Frage aus dem vorzubereitenden Themenkomplex bearbeiten sollen.  Diese Frage sollte grundsätzlich innerhalb ca. 5 Minuten zu bearbeiten sein.  Auf der Rückseite jedes Aufgabenblatts schließen sich zwei weitere Fragen an, in denen die Studierenden aufgefordert werden,

  • das zu benennen, was sie an der vorzubereitenden Lektion besonders interessant fanden und
  • Fragen dazu zu formulieren, was sie noch nicht verstanden haben.

Die ausgefüllten Aufgabenblätter werden typischerweise zur Pause eingesammelt, so dass eine Rückmeldung zu den „interessanten Themen“ und ggfs. neuen Fragen in der zweiten Vorlesungshälfte erfolgen kann.  Eine statistische Auswertung der Ergebnisse der eingangs formulierten Aufgabe mit Lösungsweg wird dann in der folgenden Vorlesung vorgestellt.

Im Mittel reichen etwa 3-5 Studierende jede Woche Fragen in Moodle zu den vorzubereitenden Inhalten ein; in den Aufgabenblättern sind es vergleichbar viele – häufig mit Fragen, die bereits in Moodle formuliert worden waren.  Diese werden auf jeden Fall in der Präsenzveranstaltung thematisiert.  Weitere konzeptuelle Verständnisfragen sowie z.B. ausgewählte Verständnisfragen und Aufgaben aus den Arbeitsmaterialien werden aufgegriffen und z.B. in Verbindung mit einem multiple-choice quiz als Element zur peer instruction ausgestaltet.  Dies wird zz. mit farbigen Kärtchen realisiert, aber die Verwendung von z.B. Pingo als elektronische, anonyme Alternative stellt eine sinnvolle Option für die Zukunft dar.

Beispiel-Aufgabenblatt einer Tutoriumseinheit: zum Trägheitsmoment starrer Körper

Beispiel-Aufgabenblatt einer Tutoriumseinheit: zum Trägheitsmoment starrer Körper

Um einem „Aussitzen“ der Quizfragen, der Verständnisfragen und der Aufgaben entgegenzuwirken, wurden in den beiden letzten Semestern ca. alle 14 Tage in die Präsenzphasen Tutorien integriert.  Dies sind ca. 20-30 Minuten lange Arbeitsphasen anhand eines Arbeitsblatts, in dem konzeptuelle Fragen bearbeitet werden sollen, bevorzugt in Gruppenarbeit unter Austausch der Studierenden.  Die Tutorien werden durch 4-5 studentische Hilfskräfte unterstützt, die als Ansprechpartner für je 2 Reihen Bänke im Hörsaal zur Verfügung stehen.  Bei diesen Tutorien treten sowohl den Studierenden wie auch den Tutorinnen und Tutoren die Verständnisschwierigkeiten der Studierenden offen zu Tage und können entsprechend adressiert werden.  Vorlage für die Tutorien ist das Buch von McDermott und Shaffer.

Demonstrationsexperimente werden auf unterschiedliche Arten eingesetzt. Sie dienen dazu,

  • Kernaspekte noch einmal zu visualisieren,
  • ausgewählte Aspekte zu demonstrieren, über deren Funktionsprinzip in der Folge diskutiert werden kann
  • oder Konzepte technischer Anwendungen anzusprechen.

Bewertung

Evaluation

Bei den regelmäßig durchgeführten Evaluationen sowohl des Fachbereichs Elektrotechnik und Informationstechnik sowie des Fachbereichs Physik wird die Veranstaltung vergleichbar mit den anderen Vorlesungen gesehen. Zwar ist die Evaluation etwas schlechter in einigen der Kennpunkte als vor der Umstellung auf das invertierte Vorlesungsformat, aber eine deutlich schlechtere Beurteilung wäre angesichts der neuen Lehrmethode möglich gewesen. Ein Aspekt wird von den Studierenden allerdings deutlich hervorgehoben: eine gestiegene Arbeitsbelastung durch die erforderliche Vorbereitung der Präsenzphasen. Die von den Studierenden angegebenen Zeiten streuen dabei breit, überschreiten aber nicht im Mittel die für die Vergabe der Leistungspunkte angestrebte Arbeitsbelastung. Befragungen lassen vermuten, dass sich nur ca. 50% der in der Präsenzveranstaltung anwesenden Studierenden tatsächlich vorbereiten. Detailliertere Untersuchungen sind erforderlich, um das Lernverhalten und den Lernerfolg noch näher mit den individuellen Vorkenntnissen im Zusammenhang zu analysieren.

Lernzuwachs

Angesichts des nicht unerheblichen Arbeitsaufwands aus Material- und Videoerstellung und Entwicklung der Präsenzfragen muss die Frage gestellt werden, ob die invertierte Vorlesung unter den Randbedingungen einer Nebenfach-Vorlesung den versprochenen Lernzuwachs bringt.  Dazu wurden stark verkürzte Fragebögen zum konzeptuellen Verständnis der klassischen Mechanik und zu Induktion und Lorentzkraft aus der Elektrodynamik erhoben und der relative Lernzuwachs ausgewertet:

(Nähere Informationen zum methodischen Vorgehen der Erhebung: siehe unten im Kasten „Vertiefendes Hintergrundwissen“)

In der folgenden Abbildung erkennt man, dass im Vergleich zu klassischen Vorlesungsformaten die Inverted Classroom-Kurse (Label ET I bzw. ET II) etwas besser abschneiden.  Ein ausführlicher Kommentar zu den systematischen Unsicherheiten der angewandten Methode ist als Konferenzbericht zur DPG-Frühjahrstagung 2016 eingereicht; eine Vorversion ist bei Interesse verfügbar.

Mittlerer relativer Lernzuwachs der ICM-Veranstaltungen Physik für ET I und II mit „konventionellen“ Lehrveranstaltungen in der Service-Lehre Physik.

Mittlerer relativer Lernzuwachs der ICM-Veranstaltungen Physik für ET I und II mit „konventionellen“ Lehrveranstaltungen in der Service-Lehre Physik. Die beiden Balken links zeigen Auswertungen von konzeptuellen Fragen zur Mechanik, die rechten zu den Themenbereichen Magnetismus und Induktion. Man erkennt einen tendenziell leicht höheren mittleren Lernzuwachs bei den ICM-Veranstaltungen.

Zum Schluss

Es hat den Anschein, dass auch in Nebenfach-Vorlesungen in Physik das konzeptuelle Verstehen der Inhalte verbessert werden konnte durch aktivierende Lehr-/Lernformen, die durch Verwendung des Formats einer invertierten Vorlesung ermöglicht wurden.  E-Learning kann dabei ein wichtiger Partner sein, vor allem bei der Vorbereitung, wo Lehr-Videos und Arbeitsmaterialien (langfristig auch als Online-Lerneinheiten mit Tests, gern auch in Verbindung mit Wikis) eine ganz zentrale Rolle spielen.  Das Erstellen didaktisch aufbereiteter Inhalte ist hier von zentralem Interesse und bedarf einer engen Verzahnung von Technologie, Fachdidaktik und pädagogischem Konzept mit den fachlichen Inhalten.  Im Prinzip sind die Erfordernisse von ICM-Lernmaterialien mit denen von MOOCs identisch, nur, dass beim ICM die wichtige Reflexionsphase im persönlichen Kontakt stattfindet.  Hier wäre meiner Meinung nach zu überlegen, ob die Curricula und Anforderungen der unterschiedlichen Studiengänge im Service-Bereich (auch in z.B. Mathematik oder Chemie oder in anderen „Nebenfächern“ wie Recht, Schulpädagogik, BWL o.ä.) so unterschiedlich sind, dass man nicht diesen Aufwand universitätsübergreifend realisieren könnte.

Vertiefendes Hintergrundwissen:

Empirische Untersuchungen zum konzeptuellen Verständnis von Physik
Dass aktivierende Lehr-/Lernformen zu einem gesteigerten konzeptuellen Verständnis von Physik führt, wurde bereits vor knapp 20 Jahren für den US-amerikanischen Raum von Hake demonstriert.  Die empirische Untersuchung basierte dabei auf einem im englischsprachigen Raum etablierten multiple choice – Test, der konzeptuelles Verstehen von Physik im Bereich Mechanik abfragt, dem Force Concept Inventory von Hestenes und Mitarbeitern.  Ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass das konzeptuelle Verständnis der Grundlagen von Physik besonders wichtig ist, wurde gerade von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) in einer Studie über den Schulunterricht noch einmal thematisiert.
Methodisches Vorgehen für die Ermittlung des im Beitrag geschilderten Lernzuwachs:

Die Erstellung der Arbeitsmaterialien und Videos für die invertierten Vorlesungen wurde durch das Förderprogramm Studentische E-Learning Tutoren und durch dezentrale QSL-Mittel des Fachbereichs Physik unterstützt.


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