Bessere Lernleistung durch alternatives Lehr-/ Lernkonzept
Ein Gastbeitrag von Prof. Jörg Lange und Dr. Felicitas Rädel – den Gewinnern des E-Teaching-Award 2017.
„Sehr viel Stoff“, „Zu wenig Übungen“, „Kaum Kommunikation mit dem Dozenten“, „Volle Sprechstunden“. Diese und andere Punkte werden von Studierenden bei Lehrveranstaltungen im klassischen Lehrformat mit hohen Anteilen an Frontalunterricht in Form von Vorlesungen häufig bemängelt. Ähnlich verhielt es sich auch bei der sonst gut bewerteten Veranstaltung „ Ausgewählte Kapitel aus dem Verbund- und Leichtbau“, einem 6 CP-Modul im Masterstudiengang Bauingenieurwesen. Diesen Zustand der Unzufriedenheit auf Seiten der Studierenden aber auch der Lehrenden wollten wir gerne ändern und bieten die Veranstaltung deswegen seit 2015 mit großem Erfolg als Inverted-Classroom-Veranstaltung auf Basis eines Lehrveranstaltungs-Wikis an.
Grundgedanken des Inverted Classroom Modells (ICM)
Die traditionelle Vorlesung an der Universität bringt einige Nachteile mit sich, unter anderem:
- Aufmerksamkeitsspanne der Studierenden << 90 min
- Heterogene Zuhörerschaft: Tempo passt nie für alle
- Nachbereitung zu Hause: Verständnisprobleme können nicht zeitnah gelöst werden
Diesen Nachteilen begegnet das ICM durch ein Umdrehen der Lernaktivitäten. Die Lernenden erarbeiten sich den Stoff mit Hilfe von im Internet bereitgestellten Materialien zunächst eigenständig. Die anschließende Lehrveranstaltung wird zur Vertiefung und Anwendung des Lernstoffes in Form von Diskussionen, Übungs- oder Gruppenarbeiten genutzt.
Dadurch ergeben sich mehrere Vorteile:
- Vorbereitung zu beliebiger Zeit, an beliebigem Ort im eigenen Tempo
- Möglichkeit, Grundlagen aufzuarbeiten – Ausgleich unterschiedlichen Vorwissens
- Eingehen auf konkrete Fragen in der Präsenzzeit, Aktivierung der Teilnehmer
- höhere Intensität und inhaltliche Tiefe während der Präsenzzeit
- stärkere Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden
Umsetzung am Fachgebiet Stahlbau
Onlinephase
Basis der Lehrmethode stellt ein lehrveranstaltungsinternes Wiki dar. Dabei handelt es sich nicht um ein freiwilliges Zusatzangebot, sondern um einen essentiellen Bestandteil des Lehrkonzepts. Zu jeder ICM-Veranstaltung existiert eine zugehörige Wiki-Seite. Darauf werden alle Arbeitsunterlagen, die zur Vorbereitung auf die Präsenzveranstaltung notwendig sind, zur Verfügung gestellt. Je nach Thema bestehen die Seiten aus komplett neu erstellten Online-Inhalten, aus einzelnen Abschnitten von Vorlesungsaufzeichnungen, aus verlinkten Fachartikeln oder Skriptauszügen. Am Ende jeder Seite werden mehrere Verständnisfragen gestellt. Diese sollen den Studierenden die Möglichkeit geben, ihr selbst angeeignetes Wissen zu überprüfen. Nach der Präsenzveranstaltung wird die Seite gegebenenfalls um eine Übungsaufgabe incl. Lösungsvorschlag ergänzt.
Präsenzphase
Der erste Teil der Präsenzphase dient immer dem Klären offener Fragen. Hier kommen unterschiedliche aktivierende Methoden, wie z.B. die Think-Pair-Share-Methode oder das Live-Abstimmungssystem PINGO zum Einsatz. Der Wechsel der Methoden soll dabei einerseits „Routineerscheinungen“ bei den Studierenden verhindern und andererseits möglichst unterschiedliche Lerntypen ansprechen. Der zweite Teil der Präsenzveranstaltung dient der Anwendung und Vertiefung des Gelernten. Dazu wird meistens eine Übungsaufgabe ausgeteilt, die von den Studierenden in Einzel- oder Partnerarbeit bearbeitet wird. Den Studierenden stehen dabei 1 bis 2 Lehrende als Ansprechpartner/in zur Verfügung.
Studienleistung
Als semesterbegleitende Studienleistung haben die Studierenden die Aufgabe, in Zweiergruppen eine eigene Wiki-Seite zu einem frei gewählten Thema auf dem Gebiet des Verbund- oder Leichtbaus zu erstellen. Die Teilnehmer setzen sich dabei eigenständig mit einem speziellen fachlichen Thema auseinander. Die Bearbeitung der Studienleistung fördert damit neben der fachlichen Weiterentwicklung auch die Kompetenz im aktiven Umgang mit dem Online-Medium Wiki. Die Wiki-Seiten werden über ein Peer-Review-Verfahren von Kommilitonen bewertet und dienen anschließend als Vorbereitungsmaterial für eine ICM-Präsenzveranstaltung.
„So, wie ich mir persönlich das Studium vorgestellt habe“
Die Studierenden bewerten die Lehrmethode in Summe sehr positiv und sind gerne bereit, mehr Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu übernehmen. Eine Teilnehmerin schrieb im Rahmen der wöchentlichen Evaluation:
„Die Methode […] ist so, wie ich mir persönlich das Studium vorgestellt habe. Ich habe das Gefühl, dass ich […] bei Weitem mehr mitgenommen habe, als wenn es eine Vorlesung gewesen wäre.“
Insgesamt wurde die Veranstaltung in allen Bereichen von Seiten der Studierenden besser bewertet als vor der Umstellung, wobei es auch einzelne Teilnehmer/innen gibt, die das klassische Lehrformat bevorzugen. Zudem wird häufiger festgestellt, dass ein positiver Effekt auch in der Abwechslung der Lehrmethoden liegt und daher aus unserer Sicht auf keinen Fall alle Lehrveranstaltungen auf ICM umgestellt werden sollten.
Auch auf Seiten der Lehrenden herrscht durch die Umstellung auf das ICM eine größere Zufriedenheit mit der Lehrveranstaltung. Gründe dafür sind unter anderem die ausgeprägte Kommunikation mit den Studierenden und das Wissen, dass die zur Verfügung stehende Präsenzzeit effektiv zur Lösung vorhandener Verständnisprobleme bzw. zum Auflösen von Fehlvorstellungen bei den Lernenden genutzt wird. Bei der erstmaligen Durchführung war die Umstellung auf ICM mit erheblichem Mehraufwand verbunden. Dieser hat sich aus unserer Sicht aber für alle Seiten gelohnt. In den Folgejahren ist durch das nun bereits vorhandene Online-Material kein großer Unterschied hinsichtlich des Aufwandes mehr festzustellen.
Eine objektive, auf Prüfungsergebnisse bezogene Aussage über den Lernerfolg lässt sich aufgrund der relativ geringen Teilnehmerzahlen und aufgrund verschiedener Prüfungsformate in den vergangenen Jahren schwer treffen. Die übereinstimmende Wahrnehmung der Dozenten ist aber, dass zu zahlreichen Themen wesentlich tiefgründigere Fragen gestellt werden als dies bei den früher stattfindenden Vorlesungen der Fall war. Dies führt regelmäßig zu einem spannenden und intensiven fachlichen Austausch.
Aktuell werden weitere Veranstaltungen des Fachgebiets auf ICM umgestellt.